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Dorfleben

E*heim, das Dorf meiner Kindheit war schon ein besonderer Ort, anders als andere Dörfer in der westfälischen Senne.

Denn als Teil einer grossen, christlich geprägten Behinderten-Anstalt war es auch durchdrungen von einem moralinsauren Weltbild und Ausgrenzung anders denkender.
Nach aussen hin zwar tolerant in jede Richtung, nach innen aber auch ein Ort, in dem über vieles nur hinter vorgehaltener Hand geredet  und moralische Grundsätze des 19. Jahrhunderts hochgehalten wurden.
Für uns Kinder bedeutete das neben einer ständigen, strengen sozialen Kontrolle auch ein Leben in einer Zweiklassengesellschaft – auf der einen Seite die „Gesunden“, zu denen wir als Kinder der dort Beschäftigten auch gerechnet wurden, auf der anderen Seite die behinderten Bewohner, die in den Heimen im Ort in strenger Disziplin lebten und denen keine eigene Entscheidungen und nur wenig Freiheiten  zugebilligt wurden.
Die Grenzen zwischen beiden Gruppen waren damals undurchlässig und starr, besonders zwei Gruppen von Betreuten gegenüber – den Menschen mit psychischen Erkrankungen und den sogenannten „schwer Erziehbaren“.
Die Einen wurden als „von Gott gestraft“ angesehen, die anderen mussten uns Kindern gegenüber immer wieder als abschreckendes Beispiel herhalten – mit der Drohung auch „dort zu landen“ wenn wir uns nicht den Regeln entsprechend verhielten.

Auch in der Gruppe der „Gesunden“ gab es grosse soziale Unterschiede, bedingt durch eine steile Hierarchie:

Ganz oben standen die Anstaltsgeistlichen als Hüter der Moral, danach kamen die Diakone – wie mein Vater – die als Heim- und Stationsleiter unmittelbar mit den Behinderten arbeiteten und Vorgesetzte aller anderen – der sogenannten „freien Mitarbeiter“ waren.
Dabei wurde gerade von der Gruppe der Diakone immer erwartet, sich „vorbildhaft“ zu verhalten, ein „untadeliges und moralisch einwandfreies Leben zu führen“ und als selbstverständlich vorausgesetzt, dass diese Anstaltsregeln bis in  deren Familien hinein galten –  also auch für uns Kinder.
Und so konnte es durchaus sein, dass unsere Streiche oder vermeintlichen Verfehlungen – und welche Kinder machen keine? – zur Folge haben konnten, dass unsere Väter zu Rapport beim Anstaltsleiter antreten mussten, um dort eine Moralpredigt zu empfangen, die dann Eins  zu Eins an uns Kinder weitergereicht wurde und mitunter eine empfindliche Strafen nach sich zog.
Dazu kam dann auch noch das Gerede – denn man kannte sich ja gut in der kleinen Gruppe der Diakone, die sich selbst auch immer noch als eine Elite empfand damals in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts – und jede Missetat machte auch schnell die Runde in diesem Kreis.
Deshalb  durften manche Dinge innerhalb der Familie auch keinesfalls in die „Öffentlichkeit“ gelangen – Eheprobleme, Schulprobleme, psychische Auffälligkeiten, ja, sogar die Scheidung oder Alkoholabhängigkeit  entfernter Verwandter, die selbst gar nicht im Dorf lebten und mit der Anstalt überhaupt nichts zu tun hatten – darüber durfte nicht geredet werden. Selbst so banale Dinge wie die erste zaghafte Verliebtheit mussten geheim gehalten werden und waren höchst verwerflich, weil das ja der Beginn eines „sündigen Lebens“ gewesen wäre….

So war das damals bei uns auf dem Dorf –  klar, dass es auch in meiner Familie nicht anders war.

Wobei mein Vater in manchen Dingen durchaus liberaler war als der Grossteil der anderen Diakone und Strafen für mich und meine Brüder nie so drakonisch ausfielen wie in anderen Diakonenfamilien.
Da gab es allenfalls mal Stubenarrest, aber geprügelt wurden wir nie.
Meine Mutter hingegen war immer darauf bedacht, nicht zum Objekt des „Dorffunkes“ zu werden, was zur Folge hatte, dass wir Kinder klare Regeln hatten, deren Übertretung auch schon mal mit tagelangem Schweigen und Übelnehmen sanktioniert wurden. Dazu kam, dass vieles, was nicht in ihr Weltbild gehörte, von vorne herein schon mal als schlecht beurteilt wurde – auch, weil es – möglicherweise – den moralischen Grundsätzen der Dorfgemeinschaft widersprochen hätte.
Lange Haare z.B.  waren so ein Thema, und meine erste pupertäre Liebe zu einem Mädchen aus dem Dorf erst recht.
Da wurde dann nicht über sexuelle Aufklärung geredet, sondern mir schlicht verboten, das Mädel weiter zu treffen…..

So war ich denn auch froh, als ich als Siebzehnjähriger berufsbedingt – gegen grosse Widerstände – zuhause ausziehen  und frei von Dorfklatsch und Dorfmoral auf eigenen Füssen stehen konnte.
Wobei mich der Boomerang der Dorfmoral dann Jahre später traf:

Nach Burnout, darauf folgender Depression und der dadurch bedingten Trennung von meiner ersten Frau – alles Dinge fernab des Weltbildes meiner Eltern, die nach Jahren im Rheinland wieder im Dunstkreis des Dorfes lebten  – wurde mir schnell klar, dass sich in dem Vierteljahrhundert seit meinem Auszug wenig an der überkommenen Moral geändert hatte und die Angst zum Ziel des Geredes zu werden – zumindest bei meiner Mutter – nicht mal zuliess, dass ich auch nur vorübergehend bei meinen Eltern hätte wohnen können, nachdem ich die Reha beendet hätte, in der ich mich zu der Zeit gerade befand.
Depression, Trennung, Scheidung …. nein, das ging gar nicht….. was sollen denn die Leute denken?
Dass es keinen Weg zurück gegeben hätte für mich, das zählte nicht.

Und so kam es, dass ich damals auf der Suche nach Halt schlussendlich in Lübeck gelandet bin – bei einer Frau, die ich meinte zu lieben, krank wie ich damals noch war.
Was den Riss zwischen mir und meinen Eltern –  und damit zwischen  mir und meiner Familie –  noch weiter vertieft hat.

Aber das ist wieder ein andere Teil der Geschichte, die jetzt gerade wieder eskaliert….

3 Replies to “Dorfleben”

  1. Als „Offizierskind“ habe ich diese Klassengesellschaft und soziale Kontrolle zu einem gewissen Grade auch „mitgemacht“. Gerade auf unser Benehmen in der Öffentlichkeit wurde schon geachtet (könnte dem einem oder anderen auch heutzutage allerdings auch nicht schaden ;) ). Andererseits war mein Elternhaus auch sehr weltoffen (Gäste aus aller Welt waren nicht ungewöhnlich und wer hatte schon Chilenen oder Afroamerikaner zu Besuch in den Siebzigern und frühen Achtzigern – ich fand es toll) und ein eher SPD-lastiger Offizier, der mit seinen Kindern Anfang der Achtziger offen über Politik, Auf- und Abrüstung und das 3. Reich diskutierte und bei Bedarf auch die nötigen Bücher kaufte, naja, meine Eltern waren (auch aus Sicht meiner Freunde damals) schon was Besonderes ;)

    Insofern habe ich da viel Glück gehabt – leider sind sie beide sehr früh gegangen…

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